Ein historischer Kriminal- und Liebesroman aus Bessarabien. Bessarabien 1905.
Martina von Schaewen hat in diesem wundervbaren Buch Ihre eigene Familiengeschichte und das Leben Ihrer Urgroßmutter Katharina fiktiv bearbeitet. Aus dieser Distanz heraus ist der Freiberrger Autorin ein großartiges Erstlingswerk gelungen, das Beachtung verdient. Lassen Sie sich verzaubern von einer großen Liebesgeschichte, die in Bessarabien im Jahr 1905 spielt.
Leseprobe aus "Schattenblende"
Im Tode bin ich dein
Prolog
Die Herbstsonne wärmte längst nicht mehr. Nebel stieg vom Fluss auf und begann, über den Boden zu kriechen. Der Mann atmete schwer auf seinem Weg von der Marktstraße zum Flussufer. Es sah aus, als kämpfte er gegen die dünnen Nebelschwaden in Kniehöhe an. Er sog die feuchte Luft ein und stieß sie sogleich keuchend wieder aus.
Seine Augen durchdrangen die Dunkelheit, die von keiner Straßenlaterne erhellt wurde. Plötzlich erkannte er schemenhaft die Umrisse einer Frau. Ihr Zopf hob sich immer wieder leicht zwischen ihren Schulterblättern und weckte sein Interesse, sodass er ihr unwillkürlich folgte. Sein Blick glitt an deutlich sichtbaren Rundungen unter ihrem Wollkleid entlang.
Er blieb stehen. Sekundenlang hielt er inne. Überlegte, ob er weiter hinter ihr hergehen sollte.
Ein stattlicher Knüppel lag vor ihm am Straßenrand und riss ihn aus seinen Gedanken.
Wichtig war jetzt, etwas in der Hand zu halten.
Er keuchte, kalter Schweiß bildete sich auf seiner Stirn. Sein Herz klopfte, das Schicksal schien ihm diese Frau geschenkt zu haben.
Nur sie und ich hier, zu anderen Gedanken war er nicht mehr fähig.
Fest hielt er den Prügel umschlossen, fast so, als klammere er sich daran. Er stand jetzt direkt hinter ihr. Immer noch hatte sie ihn nicht bemerkt. Jetzt! Sie wollte sich umdrehen, er aber packte sie im Genick. Sie kreischte. Wollte um Hilfe rufen, aber sein Schlag verschluckte ihren Schrei. Regungslos lag sie vor ihm. Er schaute sich kurz um, dann zerrte er die bewusstlose Frau über den Steg am Fluss.
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„Schwöre es bei Gott, verlass mich nie!“, flüsterte sie ihm ins Ohr.
Er lachte und strich ihr zärtlich übers Haar. „Du glaubst doch nicht dieser Zigeunerin?“
„Trotzdem, versprich es“, bat sie nochmals.
Wieder lachte er. Dann küsste er sie. Nicht so nebenbei, wie er es manchmal morgens nach dem Aufstehen oder abends im Bett tat, wenn ihnen von der Arbeit vor Müdigkeit die Augen zufielen. Diesmal nahm er ihr Gesicht in seine Hände und küsste sie auf den Mund. Lange und leidenschaftlich.
Noch einmal versuchte sie es: „Bitte, du musst ...“
Er legte ihr den Finger auf den Mund und bedeutete ihr zu schweigen. In der Ferne hörten sie die Glocken des Kirchturms schlagen.
Lieber Gott, wenn er mich jemals verlässt, spring ich in den Brunnen, dachte Katharina Illg, als sie im Jahre 1897 mit Johann Jakob ihre Hochzeitsreise fortsetzte.Jeder, der am 13. Oktober 1905 spät abends an dem Haus in der Bachstraße 333 vorbeigekommen wäre, hätte angehalten.
Katharina stand nackt mit dem Rücken zum Fenster und bürstete ihre Haare. Ihre schmalen Schultern und die schlanken Hüften waren nur schemenhaft zu erkennen. Sie legte die Bürste beiseite und streifte ihr Nachthemd über.
Die Ehefrau betrachtete das einzige Foto, das sie und Johann Jakob zeigte. Der Schein der Petroleumlampe fiel auf das Bild, das sie behutsam in ihren Händen hielt.
Ein russischer Fotograf hatte es wenige Wochen nach ihrer Hochzeit aufgenommen. Dafür hatten sie eine mühsame Reise mit dem Pferdewagen nach Odessa in Kauf genommen. Sie saßen auf einer ungefederten, verschlissenen Kutsche.
„Es klappert und quietscht andauernd. Was machen wir, wenn jetzt das Gefährt auseinanderbricht?“
Katharina schaute ängstlich zu ihrem Mann. Dann blickte sie hinter sich zu den Vespersäckchen, in die sie geräucherte Bratwurst und Brot eingepackt hatte. Die Säckchen hüpften unter dem gleichmäßigen Traben der Pferde auf und nieder.
Johann Jakob lachte: „Dann reiten wir einfach weiter. Wir haben zwei kräftige Pferde.“
Katharina blickte zu den Pferden, die an den Oberschenkeln die Zeichen KS für die Kolonie Sarata trugen. Sie betete im Stillen zu Gott, nicht auf einem Pferd sitzen zu müssen.
Die Sonne brannte auf die beiden Reisenden nieder. Ein heißer trockener Ostwind fegte über die Steppe und wirbelte feinen, gelben Sand auf, der ihnen in hohen Wolken unangenehm ins Gesicht schlug.
„Der Wind wird immer stärker.“ Wieder sah Katharina ängstlich zu ihrem Mann.
Johann Jakob hielt die Pferde an. Er und seine Frau banden sich Tücher um den Kopf. Nur einen winzigen Schlitz für die Augen ließen sie offen.
Johann Jakob nahm die Zügel locker in die Hand und schnalzte mit der Zunge.
Der Sturm erreichte seine größte Wirkung, er brauste orkanartig übers Land und verstärkte den Einfluss der beißenden Staubfontänen noch.
Katharina nahm ihre Hände zum Schutz vor die Augen und spähte ab und zu zwischen ihnen durch. Für Johann Jakob war es nicht einfach, die Zügel zu halten. Angestrengt blinzelte er in die Sonne, bemüht, auf dem vorgegebenen Weg zu bleiben.
In der bessarabischen Steppe sah man weit und breit keinen Baum. Als Johann Jakob ein paar winzige Akazien in der Landschaft erblickte, hielt er an. Im Schatten ließen sich die Sonne und der Sturm leichter ertragen.
Sie aßen ein wenig von ihrem Proviant und Katharina fragte sich insgeheim, ob sie nicht lieber wieder umkehren sollten.
„Keine Sorge, es ist nicht mehr weit“, sagte Johann Jakob, als hätte er ihre Frage gehört. „Zwei oder drei Stunden und wir sind in Akkerman.“
Katharina dachte an die Menschen, die in Sarata lebten. So eine weite Reise hatten
bisher nur wenige unternommen. Mancher kam noch bis zur Kreisstadt Akkerman. Bei guten Wetterverhältnissen brauchte man dazu etwa einen Tag. Regnete es, sammelte sich das Wasser auf den breiten Wegen. Durch die riesigen Schlammpfützen würde kein vernünftiger Mensch so eine Strapaze auf sich nehmen.
Katharina konnte sich noch genau daran erinnern, wie schnell ihr Herz schlug, als sie in Akkerman an Bord der Turgenjew gingen. Das riesige Schiff legte ab, um den breiten Seitenarm des Schwarzen Meeres zu überqueren. Ihr war ein bisschen übel und sie drückte die Hand ihres Mannes fest zusammen. Immerhin war es das erste Mal, dass sie mit einem Dampfer fuhr. Sie durfte gar nicht daran denken, was geschah, sollte es das Schiff nicht bis nach Odessa schaffen. Aber Johann Jakob hielt ihre Hand, sie war sicher, ihr konnte nichts passieren. Außerdem gehörten sie zu den wenigen Kolonisten, die schwimmen konnten.
Auch an den Moment, als der Fotograf auf den Knopf drückte und ein greller Blitz sie überraschte, erinnerte sich Katharina deutlich. Mit weit aufgerissenen Augen starrten sie und Johann Jakob nach vorne, während im Hintergrund schäumende Wellen auf dem dunkelblauen Meer tanzten.
Selten hatte sie sich so glücklich gefühlt wie bei der sechstägigen Reise damals. Sie wusste sich in Johann Jakobs Nähe vollkommen geborgen. Auch auf dem Foto schien es so, als ob er sie festhalten wolle, um sie nie wieder loszulassen. Mit seinen kurzen braunen Haaren und dem Schnurrbart überragte er sie um einen ganzen Kopf. Der Anzug, in dem er steckte, ließ ihn noch schlanker und größer wirken, als er war. Bei seinem Anblick käme niemand auf den Gedanken, dass es sich hier um einen Bauern handelte, der kräftig zupacken konnte.
Niemals, so hatte Katharina sich einst geschworen, wollte sie einen Landwirt heiraten.
Katharina blickte auf ihre zarten Hände, die sich im Laufe der zurückliegenden Jahre kaum verändert hatten. Schon damals musste jeder, der ihre Hände betrachtete, zu dem Schluss gekommen sein, dass sie auf einem Bauernhof fehl am Platze wäre. Es schien, als ob ein kleiner Windhauch genügte, um dieses zarte Geschöpf zum Fallen zu bringen. Bei Johann Jakob fand sie Schutz, hatte sich mit ihrem rechten Arm bei ihm eingehakt.
Liebevoll strich Katharina über die Fotografie und bildete sich ein, das Salz des Schwarzen Meeres zu riechen. Auch an den Gestank der toten Fische am Hafen erinnerte sie sich. Für einen kurzen Augenblick stieg Übelkeit in ihr auf. Sie öffnete die oberste Schublade der Kommode, griff nach dem wollenen Pullover Johann Jakobs, setzte sich aufs Bett und schloss die Augen. Tief vergrub sie ihre Nase in dem Kleidungsstück. Es roch nach den Lavendelsäckchen, die immer zwischen der Wäsche lagen. Immer wieder und wieder sog sie den Duft in sich auf – und da war er, ihr Johann Jakob. Verzaubert von seiner Gegenwart legte sie sich hin. Ganz dicht neben ihr lag er, drückte seinen Kopf in ihre widerspenstigen Locken, bis ein Lächeln über ihr Gesicht huschte. Er küsste ihren Nacken, liebkoste ihren Hals. Ein angenehmes Frösteln durchzog Katharinas Körper. Sie spürte seine Haut. Zärtlich streichelte er ihre Arme, ihren Hals, ihre Wangen. Sie atmete schwer.
Katharina konnte nicht mehr ausmachen, wie lange sie so dagelegen hatte. Eine störende Kälte schlich in ihren Körper und breitete sich langsam darin aus. Sie öffnete die Augen und leckte über ihre Lippen, die salzig schmeckten. Tränen der Rührung waren ihr über die Wangen in die Mundwinkel gerollt.
Ob er noch lebte? Ob sie ihn jemals wiedersehen würde? Sie unterdrückte ein Schluchzen.
Die Arbeit auf dem Hof ließ Katharina nicht viel Zeit, um zu trauern. Sie musste fast rund um die Uhr hart arbeiten. Bereits als junges Mädchen hatte sie gesehen, wie beschwerlich ein solches Leben sein konnte. Schließlich war sie die Tochter eines Bauern. Um zu erahnen, was sie bei Johann Jakob erwarten würde, dazu brauchte sie nicht viel Fantasie. Tagein, tagaus raus aufs Feld, außerdem den Stall ausmisten und den Hof und das Haus rein halten – das kannte sie. "
Copyright: Viaterra Verlag
Katharina zog die Vorhänge in der Kammer der Kinder zu. Die beiden Mädchen Olga und Berta lagen in ihren Betten.
„Mama, erzähl uns wieder von der Rosina“, bat Berta.
„Das habe ich euch doch schon so oft erzählt.“
„Doch, wir wollen von der Rosina hören, bitte“, bettelte Olga.
Katharina setzte sich neben Berta aufs Bett.
„Rosina war eine wunderschöne Frau mit langen schwarzen Haaren. Bevor sie sich abends zu Bett legte, brauchte sie eine Stunde, um sich die Haare zu kämmen. Sie nahm ihre Bürste und kämmte ihre Haare, bis sie so glänzten wie poliertes Ebenholz. Morgens frisierte sie ihre Haare zu einem dicken Zopf und machte sich damit ein Nestchen auf dem Kopf. Dann lief sie vor ihr Häuschen, zupfte ein Röschen von den Büschen und steckte sie in ihr Haarnest auf dem Kopf. So kam es, dass Rosina immer nach Rosen duftete.
Rosina lebte in Deutschland, in einem kleinen Dorf. Umgeben von unzähligen Weinstöcken stand das Häuschen, in dem sie wohnte. Aber das kleine Haus erkannte man kaum, denn die vielen Rosenbüsche, die am Haus wuchsen, hatten es geradezu eingewickelt. Die rosafarbenen, roten und weißen Blüten wuchsen täglich höher und dichter, dass Rosina kaum noch aus den Fenstern schauen konnte. Aber es hätte ihr das Herz gebrochen, die Büsche abzuschneiden. Auch die weißen und blauen Trauben an den Weinstöcken wurden von Jahr zu Jahr größer und süßer.
Zuerst lockte die Menschen der Duft der Rosen zu Rosina. Dann wollten alle ihre Trauben probieren. Überall sprach es sich herum, dass Rosina die leckersten Trauben hatte. Immer von weiter strömten die Menschen herbei und kauften bei ihr ein.
Rosina bekam Geld, Getreide und Fleisch von den Käufern und es ging ihr gut. Sie hatte mehr als genug zu essen und konnte sich von dem Geld neue Kleider nähen lassen.
Dann aber kam eine Zeit, da ging den Bauern das Getreide kaputt. Sie konnten kein Mehl mehr machen, kein Brot mehr backen. Auch Rosina konnte kein Brot mehr backen. Die Leute hatten immer weniger Geld und kauften keine Trauben mehr von ihr.
`Hab` ich kein Fleisch und kein Brot, muss ich essen meine Trauben in der Not` sagte sie sich und fing an, sich die Früchte in den Mund zu stopfen. Ihr Hunger war so groß, dass sie nicht mehr aufhörte zu essen, bis die letzte Traube in ihrem Mund verschwunden war.
Dann legte sie sich auf ihr Bett. Nach wenigen Minuten schon sah sie, wie sich ihr Bauch immer mehr wölbte. Als ihr Bauch so dick war, dass er bereits ihren Kopf überragte, betete Rosina zu Gott. Sie flehte ihn an, ihr zu helfen. Sie hatte solche Angst, dass ihr Bauch platzen würde.
Da schickte Gott einen Engel zu ihr. Der Engel schwebte über ihrem Kopf und sie starrte ihn mit aufgerissenen Augen an. Der Engel sprach: `Geh fort, Rosina. Der Kaiser von Russland hat viel Land. Es ist schöner und besser als hier. Nimm ein Pflänzchen von den Rosen, nimm ein Pflänzchen von dem Wein und du wirst bald glücklich sein.`
Rosina schlief ein. Am nächsten Morgen war ihr Bauch wieder auf seine normale Größe geschrumpft. So tat sie, was der Engel empfohlen hatte. Sie packte eine Pflanze von den Rosen und den Trauben ein und legte das wenige Geld, das sie besaß, in ein kleines Ledersäckchen.
Rosina machte sich auf den Weg in das weit entfernte Land.
Sie fuhr mit einem Schiff, das man Ulmer Schachtel nannte. Es war aber keine Schachtel mit einem Deckel, sondern ein richtig großes Boot aus Holz, das langsam auf einem Fluss fuhr.
Unendlich lange Wochen verbrachte Rosina auf dem Wasser. Manchmal schaukelte es so sehr auf dem Boot, dass ihr ganz schlecht davon wurde. Dann wieder zeigte sich keine Welle und kein Lüftchen lag in der Luft. Tagsüber war es glühend heiß, ihr Kleid klebte an ihrem Körper und sie hatte kaum genug zu trinken, um ihren Durst zu stillen. In den Nächten war es bitterkalt und sie fror so sehr, dass ihre Zähne klapperten und sie davon aufwachte.
Rosina glaubte, nie in Russland anzukommen. Eines Morgens aber öffnete sie die Augen und sah vor sich das Schwarze Meer. Sie war so glücklich, dass sie den Hunger und den Durst, der sie quälte, vergaß. Fröhlich hüpfte Rosina vom Boot. Sie kaufte sich ein Pferd, spannte es vor ein Holzgefährt und fuhr damit durch die Steppe. Vor ihr tat sich ein großes Tal auf, an dessen Ende ein Wasser floss. Es war unser Sarata mit dem Fluss Sarata.
Rosina stieg von dem klapprigen Wagen und erblickte zwischen hohem Unkraut einen Mann, der einen Ochsen am Zügel führte. Der Ochse zog einen Holzpflug hinter sich her.
`Wie heißt du?`, fragte Rosina den Mann.“
Katharina legte eine kleine Pause ein.
„Johannes!“, riefen Berta und Olga.
Katharina lächelte. „Der Johannes gefiel der Rosina gut. Die Rosina gefiel auch dem Johannes sehr gut. Und so blieben sie zusammen und heirateten. Sie bauten sich ein Haus, holten sich Schweine, Kühe, Gänse und Hühner auf ihren Hof und bekamen schon bald einen Sohn. Der Sohn hieß ...“
„David“, unterbrachen die beiden Mädchen. Katharina lächelte.
„Großvater David. Und wisst ihr was? Der Großvater liegt bestimmt schon im Bett und hat die Augen zu.“
Katharina küsste ihre beiden Mädchen auf die Stirn. „Schlaft jetzt, ihr beiden.“
Sie ging in ihre Kammer und setzte sich an die Nähmaschine. Katharina sah auf die vielen Stoffreste, die von den genähten Sachen übrig geblieben waren, und legte sie auf dem Boden aus. Warum nicht daraus für die Kinder Decken nähen? Sie nahm einzelne Stofffetzen und begann sie aneinander zu nähen. Es sah ganz nett aus, aber so richtig zufrieden war Katharina nicht mit ihrer Arbeit. Unterschiedliche Formen mussten es sein, das sah doch viel lustiger aus. Sie schnitt Rechtecke, Quadrate, Dreiecke aus und nähte sie aneinander. Herzchen und Kreise steppte sie noch darauf und breitete anschließend das unvollständige Werk vor sich aus. Die verschiedenen Farben und Stoffe gefielen ihr. Sie war dabei, ein buntes Kunstwerk zu schaffen.
Katharina schaute auf die restlichen Stoffe, die noch auf dem Boden lagen. Beim Anblick eines Stückes hellblauer Seide fiel ihr ein, dass vor langer Zeit ihre Mutter aus eben diesem Stoff für sie ein Puppenkleid genäht hatte.
Ihre Gedanken führten sie zu Maria, ihrer Mutter. Eine kräftige Bäuerin, die in der Familie die Gläubigste, aber auch die Abergläubigste gewesen war. Um Unheil oder Krankheiten fernzuhalten, wandte Maria Hilfsmittel und Methoden an, über die sich viele in Sarata amüsierten.
Bei Maria im Stall wurde kein Kalb geboren, ohne dass sie „Weiche, wie unser Heiland aus dem Grabe gewichen ist“ murmelte und sich dreimal bekreuzigte.
Als Katharina eine Warze am Fuß hatte, ließ Maria den Knecht fünfmal über den Hof reiten. Jedes Mal, wenn er an Katharina vorbeiritt, musste sie „Hinterreiter, Vorderreiter, nimm mir meine Warzen weiter!“ rufen. Die Warze verschwand nicht. Katharina bekam stattdessen mehrere Warzen an der gleichen Stelle. Maria erklärte, der Fehler liege bei ihrer Tochter. Sie habe nicht laut und deutlich genug gerufen.
Maria nahm einen Faden und machte so viele Knoten hinein, wie Katharina Warzen am Fuß hatte. Den Faden legte sie unter den Schweinetrog und schaute ein paar Tage später wieder danach. So wie der Faden verfaulte, so verschwanden auch Katharinas Warzen.
Maria erreichte dadurch, dass ihre Tochter in schlechten Zeiten oder bei Krankheiten an die Wundermittel ihrer Mutter glaubte.
David regte sich manchmal darüber auf, wenn seine Frau wieder so einen
- wie er es nannte - Hokuspokus veranstaltete. Zu einem Wutausbruch reichte es jedoch fast nie, außer wenn er der Meinung war, Maria würde ihn wieder mal zum Gespött der Leute machen. Beschwerte sich David bei ihr, hörte seine Frau ihm geduldig zu, um danach ihren Aberglauben weiter zu pflegen.
Zehn Jahre älter als ihr Mann, hatte sie meistens das letzte Wort. Ihr Alter hinderte sie nicht daran, David fünf Kinder zu gebären. Die ersten vier starben jedoch im Säuglingsalter an Diphterie, Scharlach oder Pocken. Maria war der Meinung, dass das fünfte Kind, Katharina, nur dank ihrer fürsorglichen Pflege überlebte. Gleich nach Katharinas Geburt packte Maria das Neugeborene an den Füßen und hob es hoch. Während der Säugling aus Leibeskräften brüllte, klopfte sie ihm auf den Hintern und flüsterte dabei „Kind, Kind, sei gesund / bring Freud zu jeder Stund /stoß das Leid weit fort von dir / ich gebe dir den Segen hier.“ Der Säugling, vor lauter Geschrei schon dem Ersticken nahe, beruhigte sich erst wieder, als Maria ihn in Ziegenmilch badete.
Bei der Geburt von Olga, Marias erstem Enkelkind, wiederholte die Großmutter dieses Ritual. Allerdings war sie später der Meinung, dass mit Katharinas Kind etwas nicht stimmte. Es waren die unterschiedlichen Augenfarben, die Maria verwirrten. Von so etwas hatte sie bisher noch nicht gehört.
Kurze Zeit später starb Maria im Alter von 62 Jahren.
Zwei Jahre zuvor, an ihrem 60ten Geburtstag, kam Maria der Gedanke, endlich schwimmen zu lernen und einmal in ihrem Leben im Schwarzen Meer zu baden. Auch schwirrte ihr die Idee im Kopf herum, in Sarata einen Schwimmverein für Frauen zu gründen. Aber bei den Frauen, denen sie das erzählte, erntete sie nichts als ein mitleidiges Kopfschütteln. Maria, an derlei gewöhnt, ließ sich von den Absagen nicht entmutigen. Als Erstes nähte sie sich einen Badeanzug, der aus einer schwarzen Pumphose und einem kurzärmeligen Kleid bestand, das bis zu den Knien reichte. Ein geschlossener Matrosenkragen mit aufgenähten weißen Stickereien rundete das Ganze ab. Auf dem Kopf trug sie eine eigens angefertigte enge Haube, unter der sie ihre Haare vor dem Wasser schützte.
Maria band sich einen dicken Strick um den Bauch. Mutig lief sie über die Kiesel im Sand auf den Fluss zu, gefolgt von ihrem Mann, der das Ende des Strickes festhielt. Sie legte sich zögerlich aufs Wasser und machte ihre ersten Schwimmbewegungen. David stand barfüßig mit hochgekrempelten Hosenbeinen neben seiner Frau und achtete darauf, dass sie nicht unterging. Maria war fest davon überzeugt, mit Gottes Vertrauen und Davids Hilfe bald alleine im Wasser zurechtzukommen. Wenn es die Arbeit erlaubte, übte sie gemeinsam mit ihrem Mann täglich. Bald schaffte sie die ersten richtigen Schwimmzüge und traute sich von Mal zu Mal mehr zu.
Übermütig wagte sie sich eines Abends ohne Strick und Davids Hilfe in den Fluss. Einwände Davids, sie sei noch nicht so weit, sie solle es nicht übertreiben, das Wasser wäre zu kalt, überhörte sie. Daran gewöhnt, dass seine Frau tat, was sie wollte, blieb David resigniert am Ufer stehen. Der Fluss war eiskalt. Maria nahm Anlauf und sprang ins Wasser. Ein Schrei durchdrang die abendliche Stille am Fluss. David stockte der Atem. Maria bewegte sich nicht mehr. Die Kälte des Wassers hatte ihr Herz zum Stillstand gebracht.
David schrie Marias Namen und stürzte sich in den Fluss. Seine Stiefel und seine Hosen, die sich mit dem eiskalten Wasser füllten, wurden immer schwerer. David kam nur mühsam vorwärts. Erst als er bis zur Brusthöhe im Fluss stand, erreichte er seine Frau.
Er packte Maria unter den Armen und zog sie ans Ufer. David beugte sich über sie und klopfte ihr zaghaft auf die Wangen. Er flüsterte eindringlich: „Maria, Maria ...“
Erst bewegte er sie vorsichtig hin und her, dann packte er sie an den Schultern und schüttelte sie immer heftiger.
„Maria, Maria, Maria!“
Seine Schreie schreckten die Dorfbewohner auf und viele kamen an den Fluss gelaufen.
Mit dunkelblauen Lippen, schlotternd vor Kälte, fanden sie David Idler am Ufer sitzend. Er wiegte seine tote Frau in den Armen.
Maria hinterließ David ein sauberes Haus und einen liebevoll gepflegten Kräutergarten.
In der gemeinsamen Schlafkammer ließ David den Kolonistenspruch
Der erste fand den Tod,
Der zweite hat die Not,
Der dritte erst hat Brot
unverändert über der Bettseite seiner Frau hängen. Das Buch auf ihrem Nachttisch mit dem Titel
„Mysterium Wunder oder eine Gebrauchsanweisung zur Abwendung Übelgesinntem“
schenkte er Katharina.
Den Badeanzug und die Haube Marias legte David aufs Bett. Abends, wenn er schlafen ging, streckte er sich daneben aus und erinnerte sich an die vielen schönen Stunden mit seiner verstorbenen Frau."